Eine Familie ist ein System, bei dem alle Familienmitglieder sehr tief miteinander verbunden sind.

Ein System wird wie ein eigener dynamischer und lebendiger Gesamtorganismus betrachtet, das heißt, es handelt sich um ein System, das über lediglich einzelne Individuen hinausgeht.
Es strebt immer danach, sich zu erhalten und zu stabilisieren. Daher nehmen die Angehörigen eines Systems wie in einem Mobile ihre jeweilige spezifische Rolle ein, um das System in Balance zu halten auch wenn diese Balance im besonderen Fall instabil und vulnerabel ist und eine erhebliche "Schieflage" hat, was ein gutes und gesundes "normales" Funktionieren unmöglich macht.

In einem organisch gesunden Familiensystem sind alle Teile gut und verlässlich aufeinander eingespielt. Jeder erfüllt die ihm zugedachte und entsprechende Rolle und verhält sich entsprechend rollenkonform. Allerdings laufen diese Prozesse unbewusst ab und werden von den Mitgliedern für ganz selbstverständlich gehalten. Von außen betrachtet, lässt sich diese systemische Dynamik jedoch deutlich erkennen.

In den meisten konventionellen Familien ist es nach dem althergebrachten, konservativem Rollenmodell so, dass der Vater die Aufgabe des „Broterwerbers“ und die Mutter die Rolle der „Familienmanagerin“ übernimmt. Beide versorgen –  der eine mehr auf der materiellen Ebene, die andere mehr auf der emotionalen Ebene. Kinder, die aus dieser Beziehung entstehen, haben den Wunsch, von beiden gleichermaßen auf individuelle Art und Weise "gesehen" und wertgeschätzt zu werden.

Solch ein Familiensystem kann nur gut “funktionieren”, wenn alle - vor allem psychisch und emotional - gesund bleiben, wenn sich jeder an seine Rolle hält und wenn alle Beteiligten gleichzeitig offen und bereit sind, sich flexibel auf Veränderungen wie Reifungs- und Entwicklungsprozesse einzustellen.

Denn Veränderungen, egal welcher Art, bringen bestehende Systeme immer wieder in Ungleichgewicht, dh, Veränderungen erzeugen temporäre Dissonanzen und Imbalancen. Damit fühlen sie sich zuerst einmal unangenehm an und zwingen alle Angehörigen dazu, sich auf die neuen Situationen einzustellen. Dauerhafter Widerstand gegen Neues und zwanghaftes Verharren und Verhaftetsein in erstarrten, festgefügten Strukturen und Ritualen verhindern und bremsen in unangenehmer Weise  diese Veränderungen.
Leben per se heißt, dynamisch zu bleiben, mit dem Fluss der Prozesse und der Entwicklungen mitzugehen und diese zu akzeptieren.  Dann hat der Einzelne ebenso wie die Gemeinschaft die Chance sich selbst und das soziale Miteinander weiterzuentwickeln.
Stagnationen, Widerstand und Erstarrung machen krank, die fehlende Akzeptanz von Veränderungen und anderen Ansichten ist belastend und kann mit sehr hohem subjektivem Leidensdruck einhergehen.

Kurz: Das In-Frage-stellen und In-Frage-gestellt-werden sowie das gesunde Reflektieren seiner selbst ist für das gute Funktionierem eines Systems und dafür, dass sich alle Angehörigen des Systems wohlfühlen können, unabdingbar.
Die Offenheit in Veränderungen zunächst einmal Herausforderungen und nicht sofort Probleme zu sehen, macht Sinn.

 

Trendthema Trennungen und Scheidung der Eltern und Lebenspartnerschaften, - wer ist woran "schuld"?

Vorab zunächst:
Partnerschaften und Lebensgemeinschaften sollen in jedem Fall auch erst einmal geschlechterunabhängig gesehen werden können.

Wenn sich ein (Ehe-)Paar trennt oder ein Elternteil wegen Erkrankung oder anderer belastender Umstände ausfällt, muss dieser Verlust von den bleibenden Familienmitgliedern kompensiert werden.
In solch gravierenden Veränderungsphasen sind alle Familienmitglieder, egal ob sie miteinander oder getrennt leben, hohem und höchstem Stress ausgesetzt.
Ein achtsames, sensibles und vor allem gemeinsame gelebtes und gemeinsam getragenes Ausbalancieren ist notwendig erforderlich, um den erhöhten eigenen Bedürfnisse und äußeren Anforderungen entsprechen zu können.

Manchmal treten in solchen Lebensphasen bei Kindern ungewollte und unangenehme Verhaltensweisen auf, die bei enormer psycho-emotionaler Anspannung unbewusst die fehlende Aufmerksamkeit und mangelnde liebevolle Zugewandtheit der engen Bezugspersonen kompensieren sollen, weil sich diese mit so vielen, wichtigeren anderen Angelegenheiten beschäftigen müssen.

Zum Beispiel äußert sich dies in emotionalen Störungen des Sozialverhaltens, in Depression und lebensmüden Zuständen, in Bewegungsunruhe (Hyperaktivität), sog.   „Zappelphilipp-Syndrom“ (ADS oder ADHS) oder über Tics und Ticstörungen und Zwangsgedanken und -handlungen, über scheinbar grundlose Angstzustände und Panikattacken bis hin bei längerem Verlauf dem Entstehen von phobischen Störungen. All das kann oftmals nichts anderes bedeuten als den oft panikartigen, zwanghaften Versuch des Kindes, die fehlende Harmonie in der Familie wieder herzustellen und die unerträglichen Spannungspotentiale unter den Familienangehörigen irgendwie abzuarbeiten und somit auszugleichen.

Diese Prozesse laufen NAHEZU IMMER UNBEWUSST ab und die verzweifelten und besorgten Eltern und engsten Bezugspersonen, versuchen die "Schuldigen" zu finden und suchen gleichfalls oft verzweifelt die Ursachen für diese Störungen ihres Kindes/ihrer Kinder in der Umgebung, das heißt AUSSERHALB ihres Lebens- und Wirkungsbereiches, ganz häufig in der Schule und bei Mobbing und Bullying durch andere Kinder oder auch Erwachsene, bei plötzlich entstandenen Konzentrations- und Lernstörungen  mangelnder Lernmotivation und Tagträumen, Traurigkeit, Stimmungsschwankungen, sozialem Rückzug, Schlafstörungen und Somatisierungen, mangelnder Frustrationstoleranz mit Aggressionen sowie letztendlichem Leistungsabfall, im sozialen Miteinander zeigen sich Furcht und Panikattacken, Trennungsängste, Somatisierungen und zuletzt oft das gefürchtete und besonders psychotherapieresistente Vermeidungsverhalten (siehe auch Schul- und Arbeitsvermeidung).

Die Flucht der Kinder und Jugendlichen in die "kinderleicht" steuer- und kontrollierbare virtuelle Welt der elektronischen Medien tut zudem meist das Ihrige, um alle die genannten Störungen und Krankheitssymptome höchst effizient vor dem Hintergrund eines fast immer vorhandenen und sich kontinuierlich ausweitenden, chronischen Schlafmangels.


Alle diese Störungsprozesse unterliegen keiner kryptogenen oder idiopathischen Genese und Pathologie per se (zur Begriffserklärung: das heißt, die medizinische Wissenschaft weiß nicht genau, woher eine Krankheit oder Störung kommt), sondern sind sehr häufig eine gesunde, weil schließlich unübersehbare Reaktion und ein dringendes Hilfesignal eines gesunden Kindes auf eine anhaltend belastende und leidensbehaftete und potentiell pathologische Situation.
(cave: Natürlich können Bewegungsunruhe oder andere psychoemotionale Störungen eines Kindes oder Jugendlichen auch verschiedene andere systemische Ursachen haben, die es in der seriösen kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnostik zu klären gilt.)

Verhaltensstörungen von Kindern können also auch symbolhaften Charakter haben und Aussagen über Problemsituationen und ungelöste Konflikte zulassen, welche die Eltern vielleicht lieber nicht hören und sehen möchten.

So paradox es auch klingen mag, - nochmals:
Gerade Kinder und Jugendliche versuchen unbewusst sehr oft, das Familiensystem durch ihr auffälliges Verhalten zu stabilisieren. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass jedes Alter seine spezifischen, natürlichen und lebendigen Entwicklungsprozesse und Verhaltensweisen hat, zum Beispiel die Informations- und "Daten"-Sammlung im Kleinkindes- und Kindesalter anhand des Verhaltens der Familienangehörigen und Lernen durch Nachahmen der engsten Bezugspersonen bis zum ca. 10 Lebensjahr; ab dem Beginn der Pubertät "Datenvernetzung und Imagebildung" auf neuronaler, zentralnervöser Ebene sowie Ausbildung von neuronalen Netzwerken und "Sortieren und Ordnen" der bereits gespeicherten Information und Datenpools und Verhaltensweisen und vieles andere mehr.
In problematischen Situationen können Geschwister dann auch ganz unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag legen – aber häufig alle mit dem unbewussten Ziel, eine Trennung ihrer Eltern zu verhindern.

 

Was tun? Bzw. wie finden Sie guten Rat und effiziente Hilfe?
Die Systemische Familientherapie und ihre Möglichkeiten (und Grenzen)

Ein systemischer Therapeut behandelt niemals nur denjenigen innerhalb eines Systems, der offensichtlich Probleme hat oder macht, sondern schaut sich immer das gesamte System an. So kann er die Dynamik und das Zusammenspiel aller Familienmitglieder verstehen und mit einbeziehen.

Das Gute daran ist: Wenn sich in einem System ein Teil ändert (egal welcher!), dann hat dies auch Auswirkungen auf alle anderen.

Für Sie als Eltern ist dies eine Herausforderung, aber auch eine  große und besonders wertvolle Chance:
Wenn Sie Ihr Verhalten ändern, wird das mit großer Wahrscheinlichkeit auch Ihr Kind tun.
Häufig ist dies der Fall, wenn die inneren Belastungen der Eltern und engsten Bezugspersonen wegfallen.
Dann ist der Weg frei für neue Sicht- und Verhaltensweisen.

Darum sind es immer auch folgende Fragestellungen, die uns im Rahmen der Therapie begleiten:

  • Gibt es eine systemische Dynamik, die mit der Auffälligkeit zu tun hat und wenn ja, welche?

  • Welche systemische Funktion hat das auffällige Verhalten?

  • Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es, diese Funktion auf bessere, gesündere Art auszufüllen?

  • Was kann jeder innerhalb des Familiensystems dazu beitragen?

  • Wie können Sie als Eltern Ihr Kind in dieser Situation am besten unterstützen?

Vielleicht wird Ihr Kind sein Verhalten nicht sofort umstellen, weil Veränderungen zunächst auch zu Irritationen und Widerstand führen können. Aber wenn Sie ruhig und beständig dabeibleiben, wird sich auch Ihr Kind nach einer gewissen Zeit ändern.

 

 

(unter Einbeziehung der Erkenntnisse von Dr. Michael Winterhoff und Dr. Angelika Rischar, Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Bonn, Deutschland, 2017)